GERLINDE

„Wenn es mal schwierig war, habe ich mich gefragt:
Was muss ich jetzt noch lernen?“

Ich komme aus einer großen Familie, bin die Älteste von sechs Kindern. In unserer Siedlung waren immer jede Menge Kinder, darum war ich das von Anfang an gewohnt. Meine Mutter war zuhause, ich habe viel mitgeholfen. Das war einfach ganz normal für mich. Als ich später Tagesmutter geworden bin, haben viele auch zu mir gesagt: „Ja klar, das war schon immer deins!“

Eigentlich bin ich gelernte Bürokauffrau und habe beim Tiroler Heimatwerk gearbeitet. Als ich selbst Kinder bekommen habe, habe ich irgendwann begonnen, auch andere Kinder zu betreuen. Damals habe ich mich nie Tagesmutter genannt. Ich war für alle einfach die Gerlinde. In meiner Generation war das noch völlig klar, dass man als Frau zuhause bleibt, wenn man Kinder bekommt. Etwas anderes war gar kein Thema. Bei meiner Nachbarin war das aber damals schon anders, die ist nach ein paar Monaten schon wieder stundenweise arbeiten gegangen.

Hauptberuf und Berufung

Als meine dritte Tochter in den Kindergarten gekommen ist, wollte ich wieder anfangen im Büro zu arbeiten. Da hat eine andere Mutter mich angesprochen und gefragt, ob ich nicht über Frauen* im Brennpunkt hauptberuflich Tagesmutter werden möchte. Ich habe mich informiert und mich dann für diesen Beruf entschieden – und diese Entscheidung hat mein Leben sehr stark geprägt.

Von Anfang an war meine Betreuung ein Selbstläufer. In knapp 20 Jahren als Tagesmutter habe ich über 80 Kinder betreut! Mein „längstes“ Tageskind habe ich von 4 Monaten bis zum 12. Lebensjahr betreut. Bei uns war also immer viel los, besonders zur Mittagszeit. Eine meiner Töchter fand es manchmal anstrengend, dass immer so viele Kinder da waren. Da habe ich zu ihr gesagt: „Du darfst jetzt auch lernen und später arbeiten, was du möchtest. Und ich mache den Beruf, den ich machen will.“ Auch meine Mutter hat oft nicht verstanden, dass das mein Hauptberuf ist und ich nicht jederzeit für sie auf Abruf sein konnte.

Tagesmutter aus Überzeugung

Einmal habe ich etwas Interessantes erlebt. Ein älteres Ehepaar hat mich mit Kinderwagen und mehreren Kindern in verschiedenem Alter gesehen. Als sie verstanden haben, dass ich Tagesmutter bin, haben sie so reagiert: „Die armen Kinder!“ Es hat sie scheinbar befremdet, dass die Eltern ihre jungen Kinder in Betreuung geben. Ich habe gefragt: „Wieso? Bin ich etwa ein Ungeheuer?“ Da haben sie gleich eingelenkt.

Irgendwann habe ich auch einmal darüber nachgedacht, in einen Kindergarten zu wechseln. Aber am Ende fand ich die Freiheiten, die ich als Tagesmutter hatte, ansprechender. Bei Frauen* im Brennpunkt angestellt zu sein war eine große Bereicherung für mich. Hier hatte ich immer die Möglichkeit, mit jemandem aktuelle Themen zu reflektieren, mich auszutauschen. In Pension zu gehen war trotzdem wunderbar. Ich habe mich schon darauf gefreut, weil ich auch gemerkt habe, dass ich nicht mehr dieselbe Energie hatte wie früher. Ich habe dann anfangs viel gelesen, irgendwann habe ich auch ausgemistet und viele Spielsachen weitergegeben.

Was muss ich jetzt noch lernen?

Man darf nie sagen: Ein Kind ist schwierig. Es hat vielleicht einfach andere Bedürfnisse. Wenn es mal schwierig war, habe ich mich gefragt: Was muss ich jetzt noch lernen? Und irgendwie haben wir es immer hingekriegt, gemeinsam. Ich habe auch über viele Jahre einen Jungen mit Trisomie 21 betreut. Die Mutter kannte mich bereits und hat mir voll vertraut. Sie hat mir viele wichtige Informationen über ihn gegeben, und so wusste ich, worauf ich bei ihm achten musste. Ich musste ihn auf keine besondere Weise fördern. Seine Mutter wollte nicht, dass er eine Extra-Behandlung bekommt, und am Ende hat das immer gut gepasst. Er wollte oft seine Ruhe haben, und die anderen Kinder haben das auch akzeptiert. Manchmal haben sie ihm zugesehen, und dann hat er sie auch hin und wieder in sein Spiel integriert. Keines der Kinder hatte Berührungsängste zu ihm. Für mich war er ein Tageskind wie jedes andere. Ich habe auch nach wie vor noch Kontakt zu ihm und seiner Familie und es geht ihnen sehr gut. Er macht seinen Weg.

Frau sein damals und heute

Ich merke schon, dass Frauen sich über die Generationen hinweg verändert haben. Ich sehe heute mehr gesunden Egoismus bei Frauen als früher. (lacht) Ich habe in meinem Leben immer wieder miterlebt, wie Frauen für ihre Rechte aufgestanden sind. Alleinerziehende Mütter, die eine ganztägige Kinderbetreuung in ihrer Gemeinde eingefordert haben, zum Beispiel. Auch die Männer haben sich verändert, sind aufgeschlossener geworden. Ein Junge bei mir wollte einmal nur noch rosafarbene Kleidung tragen – und dem Vater hat das gar nichts ausgemacht. Nur Strumpfhose wollte er ihm keine kaufen! (lacht)

Aber es war bis zum Schluss die Ausnahme, dass ein Vater sich wirklich stark dafür interessiert hat, wie die Betreuung bei der Tagesmutter funktioniert. Ich erinnere mich an einen Vater, der ist reingekommen, hat die Schuhe ausgezogen und sich dazugesetzt, der wollte alles richtig kennenlernen. Das fand ich super. Ich fürchte, es ist immer noch schwierig, als Mann in Betreuungsberufe einzusteigen. Ich glaube, es wird ihnen oft nahegelegt, sich einen anderen Beruf zu suchen. Dabei wäre es wirklich toll, wenn mehr Männer diesen Beruf ergreifen.

Was ich den Frauen wünsche

Als junge Frau muss man heute sehr viel leisten – du sollst überall gut sein: im Job, als Frau, als Mutter, alles. Und wenn mal etwas nicht so klappt – aber dann. Ich fände es sehr wichtig, dass Frauen besser bezahlt werden – vor allem in der Kinderbetreuung, aber auch allgemein gleich viel Gehalt bekommen wie Männer. Und dass der Gedanke „Mütter gehören zu den Kindern“ an Boden verliert. Dass die Männer mehr bestärkt werden, sich ebenfalls zu kümmern. Ich glaube, sie würden das auch gern tun, werden aber von der Gesellschaft verunsichert, und denken eben auch, dass sie das Haupt-Gehalt nach Hause bringen müssen. Es sollte außerdem ein Recht auf einen Kinderbetreuungsplatz geben. Es ist ja furchtbar, wie früh man sich bei uns in den Gemeinden oft anmelden muss, um eine Chance auf einen Platz zu haben. Frauen sollten sich nie rechtfertigen müssen – auch nicht, wenn sie keine Kinder haben wollen.

November 2022

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